11. September 2001

Endlich fertig mit den Schularbeiten. Ich packe die Stifte ordentlich in die Federmappe und lege die Hefte zusammen.
   „Mama! Ich bin fertig!“
   „Alles klar“, höre ich Mama von irgendwoher sagen. „Ich seh es mir gleich an.“
   Wenn ich die Hausaufgaben fertig habe und mit niemandem verabredet bin, darf ich fernsehen. Heute bin ich mit niemandem verabredet. Ich gehe also rüber ins Wohnzimmer, nehme mir die Fernbedienung und gucke auf die Uhr am Videorecorder. Da steht: 15:29. Heute war ich richtig schnell.
   Ich drücke auf den großen Knopf an der Fernbedienung, und der Fernseher geht an. Um viertel nach drei kommt dienstags immer eine Tiersendung, die ich sonst meistens verpasse, und ich freue mich, dass ich sie heute noch sehen kann. Aber irgend etwas stimmt nicht. Ich sehe einen Nachrichtensprecher, der ein sehr ernstes Gesicht macht.
   Vielleicht bin ich im falschen Programm? Ich drücke auf den Knopf mit der 1. Aber nichts ändert sich. Das Programm war das richtige. Warum kommt da nicht meine Sendung? Vielleicht guckt der Nachrichtensprecher ja deswegen so ernst, weil er auch sauer darüber ist, dass er Nachrichten sprechen muss und nicht die Tiersendung sehen kann.
   Dann verschwindet der Sprecher und ein Film fängt an. Ein ziemlich komischer Film: Man sieht nur einen hohen Turm, es muss ein Schornstein sein oder so etwas Ähnliches, denn oben kommt Qualm heraus. Dann erscheint plötzlich ein Flugzeug. Es fliegt genau gegen den Turm und kracht hinein. Dann ist es verschwunden, aber an der Stelle brennt jetzt ein Feuer. Es redet auch jemand, den man nicht sieht, aber ich höre nicht hin.
   „Mama?“
   Keine Antwort. Ich will, dass Mama mir das erklärt, ich verstehe diesen Film nicht und will wissen, warum das Flugzeug nicht an dem Turm vorbeigeflogen ist. Da rückt der Turm auf einmal etwas weiter weg und andere Gebäude werden sichtbar. Das ist gar kein Schornstein, sondern ein Hochhaus, nein, sogar zwei Hochhäuser – aus dem einen kommt oben der Qualm, und in das andere ist eben das Flugzeug hineingekracht.
   „Mama! Da ist ein Flugzeug in ein Hochhaus geflogen!“
   Immer noch keine Antwort. Vielleicht kann Mama mich nicht hören. Ich versuche es noch mal:
   „Mamaaaa! Ein Flugzeug ist in ein Hochhaus reingeflogen! Im Fernsehen!“
   Jetzt kommt Mama ins Zimmer, das schnurlose Telefon am Ohr. Sie wirft mir einen Du-merkst-doch-dass-ich-dir-jetzt-nicht-zuhören-kann-Blick zu, sagt ins Telefon: „Moment mal kurz“, und dann leise zu mir: „Ich komm ja gleich, Leonie, warte doch bitte, bis ich fertig telefoniert habe!“
   Aber ich finde den komischen Film jetzt wichtiger als Mamas Telefongespräch. „Aber da ist ein Flugzeug in ein Hochhaus geflogen. Guck, da, wo es brennt. Warum ist das Flugzeug denn nicht vorbeigeflogen?“
   „Was sagst du da?“ Mama findet jetzt offensichtlich auch, dass der Film wichtig ist. Sie sagt in den Hörer: „Entschuldige, aber da muss eine ziemliche Katastrophe passiert sein ... schalt mal den Fernseher ein ... ich weiß es auch nicht, Leonie guckt gerade, eigentlich sollte so ein Tierfilm kommen. Um Gottes Willen. Das ist das World Trade Center. Das World Trade Center brennt.“
   Ich weiß nicht genau, was eine Katastrophe ist oder ein Wörldtrehd- oder was auch immer, aber Mamas Stimme klingt so erschrocken, dass es wohl etwas Schlimmes sein muss. Ich höre sie sagen: „Du, lass uns später weiterreden ... ja, ich auch, ich will jetzt erst mal wissen, was da los ist ... in Ordnung, bis dann.“ Dann setzt sie sich neben mich aufs Sofa, nimmt sich die Fernbedienung und schaltet den Ton lauter. Sie sieht ziemlich blass aus.
   „Mama“, setze ich wieder an, „warum ist das Flugzeug denn da reingeflogen? Und warum kommt da oben dieser ganze Qualm aus dem Hochhaus?“
   „Sei still, Leonie, ich weiß es doch auch nicht“, murmelt Mama, den Blick auf den Bildschirm geheftet. „Lass mich zuhören, ja? Und geh in dein Zimmer. Ich erkläre es dir nachher.“
   Ich will nicht in mein Zimmer gehen, denn mir ist noch eine wichtige Frage eingefallen. „Sind da Leute in dem Hochhaus? Und in dem Flugzeug? Was ist mit den Leuten, Mama?“
   Da sieht Mama mich endlich an. Und sie hat Tränen in den Augen. Ich habe noch nie gesehen, dass Mama geweint hätte wegen etwas, das im Fernsehen kommt. Das ist so schockierend, dass ich tatsächlich in mein Zimmer gehe, ohne noch weiter zu fragen.
   In meinem Zimmer setze ich mich an den Tisch, auf dem noch die Schulhefte liegen. Ich versuche mir vorzustellen, ich wäre in einem Hochhaus und draußen flöge ein Flugzeug genau gegen mein Fenster. Aber ich komme nicht weiter als bis zu der Stelle, wo das Flugzeug dicht vor dem Fenster ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es in das Haus hineinkracht, es geht nicht, so sehr ich mich auch anstrenge.

Beim Abendessen ist auch Papa da. Er arbeitet länger als Mama und kommt erst abends nach Hause. Normalerweise reden wir immer viel beim Essen, aber heute ist es sehr still.
   Mama hat ihr Versprechen, mir den Film mit dem Hochhaus und dem Flugzeug zu erklären, bisher nicht gehalten. Sie hat sich auch nicht meine Hausaufgaben angesehen wie sonst immer. Ich konnte sie reden hören, zuerst am Telefon und dann, als Papa gekommen war, mit ihm. Und die ganze Zeit lief der Fernseher. Als ich einmal aufs Klo ging, habe ich hingesehen. Da war immer noch das Hochhaus auf dem Bildschirm, aber diesmal gab es noch mehr Qualm, und es sah so aus, als würden Stücke vom Hochhaus wegfliegen wie bei einem Vulkan, der Lava und Steine ausspuckt – so einen hatte ich vor ein paar Wochen in einem anderen Film gesehen. Dann scheuchte Mama mich weg. Ich verstand nicht, warum sie so dringend wollte, dass ich den Film nicht sah, und ich wollte auch immer noch, dass sie mir erklärte, was da los war. Aber sie hatte immer noch dieses blasse, erschrockene Gesicht, und deshalb ging ich. Ich wollte nicht noch mal sehen, dass sie Tränen in den Augen hatte.
   „Papa“, sage ich, ohne Mama anzusehen. „Heute war ein Film im Fernsehen, da ist ein Flugzeug in ein Hochhaus geflogen.“ Es kann ja sein, dass Mama ihm noch nichts davon erzählt hat.
   Papa sieht mich an mit einem Gesicht, das mich an den Nachrichtensprecher von vorhin erinnert. „Ja, Maus, ich weiß“, sagt er. „Aber das Schlimme ist, dass das gar kein Film war. Das ist wirklich passiert.“
   „Aber warum? Warum ist das Flugzeug da reingeflogen? Konnte der Pilot das Hochhaus nicht sehen? Man sieht ein Hochhaus doch, wenn man ein Flugzeug steuert.“
   „Der, der dieses Flugzeug gesteuert hat, hat es mit Absicht gegen das Haus geflogen,“ sagt jetzt Mama. „Warum er das gemacht hat, kann kein Mensch genau sagen. Wahrscheinlich war es ein Terrorist. Also jemand, der so unbedingt eine bestimmte Sache erreichen will, dass er alles dafür tut, sogar brutale, grausame Verbrechen.“
   Ich vergesse weiterzuessen, so gründlich denke ich nach. Jede Menge Fragen schießen mir durch den Kopf, und ich muss mich konzentrieren, um sie nicht alle sofort wieder zu vergessen.
   „Was wollte der denn erreichen?“ frage ich. „Hat er das vorher gesagt? Und warum hat er gedacht, er kriegt das, wenn er mit dem Flugzeug gegen das Hochhaus fliegt?“ Bevor Mama oder Papa antworten können, fällt mir noch ein: „Und in dem Flugzeug waren doch auch noch andere Leute. Und in dem Hochhaus. Sind die jetzt alle tot?“
   „Ja, Leonie, die sind alle tot“, sagt Papa leise. „Zumindest die in dem Flugzeug. Aus dem Hochhaus konnten sich wohl viele rechtzeitig retten, bevor es zusammengestürzt ist. Aber es sind sehr viele Leute gestorben, wahrscheinlich mehrere Tausend.“
   „Tausend ist mehr als hundert ... oder?“ Ich bin ja erst in der zweiten Klasse, und bis jetzt kann ich nur bis zwanzig rechnen. Aber ich kann schon bis hundert zählen. Das dauert ziemlich lange; also ist hundert ziemlich viel. Wenn man nach hundert noch weiter zählt, kommt man wohl irgendwann bis tausend, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie lange man dafür zählen muss.
   „Nicht mal wir können uns das richtig vorstellen, Leonie“, sagt Mama. „Dass es Leute gibt, die so etwas mit Absicht herbeiführen. So viele Menschen umbringen.“ Sie wirft Papa einen hilflosen Blick zu – vielleicht möchte sie, dass er ihr das erklärt. Aber er nickt nur ernst, und ich merke plötzlich, dass weder er noch Mama meine Fragen wirklich beantworten können. Es ist ein erschreckendes Gefühl. Eltern wissen doch eigentlich immer alles. Wenn man selber etwas nicht weiß, fragt man sie und sie erklären es einem. Was soll man denn machen, wenn sie auf einmal selber nichts wissen? Es ist, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Als würde ich in ein tiefes, bodenloses Loch fallen. Ich habe Angst.
   Und dann kommt mir mit einem Mal ein Gedanke, der fast noch schrecklicher ist.
   „Gibt es jetzt einen Krieg?“ frage ich leise und wundere mich selber darüber, wie zittrig meine Stimme klingt.
   „Nein“, meint Papa, „sicher nicht“, und ich bin erleichtert. Ich bin zwar nicht ganz sicher, was ein Krieg eigentlich ist, aber ich weiß, dass dabei Bomben auf Häuser geworfen werden und sie explodieren lassen und dass sehr viele Menschen dabei sterben. Uroma hat davon erzählt, weil sie vor ganz, ganz langer Zeit selber einen miterlebt hat. Und Explosionen, ein kaputtes Haus und viele tote Menschen gab es bei der Sache mit dem Flugzeug auch, genau wie in Uromas Geschichten. Wenn aber Papa sagt, dass das kein Krieg ist, dann brauche ich sicher keine Angst davor zu haben.
   Da aber wendet Mama ein: „Sag das nicht. Du glaubst doch nicht, dass der Bush auf Rache verzichtet. Der wird postwendend seine Bomber losschicken.“
   „Aber wohin denn?“ fragt Papa zurück, „er kann ja nicht einfach wild irgendwo herumbombardieren. Erst mal müssen sie herausfinden, wer dahintersteckt.“
   „Da genügt doch ein Verdacht“, sagt Mama bitter. „Vor drei Jahren hat Clinton auch bombardiert, nach den Anschlägen auf die Botschaften in Tansania und Kenia. Und hinterher stellte sich heraus, dass diese Fabrik im Sudan, die da kaputtgeschossen worden ist, bloß Medikamente produzierte.“
   Ich merke, dass das Gespräch jetzt an mir vorbeigeht, und frage dazwischen: „Aber wenn Papa sagt, es gibt keinen Krieg, dann gibt es auch keinen. Oder?“
   „Leonie“, sagt Papa und sieht mich wieder mit diesem Nachrichtensprecher-Blick an. „Dieses Attentat, weißt du – dieses Flugzeug, das in das Hochhaus geflogen ist, oder besser gesagt, diese Flugzeuge – das waren nämlich sogar zwei, dieser Qualm, den du auch gesehen hast, der stammte von dem Einschlag des anderen Flugzeugs –“
   – ja, ich erinnere mich ... und ich habe geglaubt, das sei ein Schornstein –
   „– und dann gab es noch ein drittes, das in das amerikanische Verteidigungsministerium gestürzt ist ... diese drei Anschläge sind in Amerika passiert. Das Hochhaus, das du im Fernsehen gesehen hast, das steht in New York.“
   „Stand in New York“, wirft Mama ein.
   „Ja, stand. Himmel, es ist wirklich Wahnsinn, ausgerechnet das World Trade Center ... was für eine Symbolik ... Also, Leonie, das alles ist sehr weit weg passiert. Und ich glaube nicht, dass wir Angst davor haben müssen, dass auch hier bei uns demnächst Flugzeuge in die Häuser fliegen werden.“ Das soll wohl witzig klingen, aber ich kann nicht lachen und Mama auch nicht. Also redet Papa weiter. „Nur: der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist natürlich der Meinung, dass jemand, der sein Land auf so brutale Weise angreift und so viele Menschen umbringt, bestraft werden muss.“
   „Aber die das gemacht haben“, sage ich, „die waren doch in den Flugzeugen drin. Und du hast gesagt, die Leute in den Flugzeugen sind alle tot. Er kann die doch nicht mehr bestrafen, wenn sie schon tot sind.“
   „Da hast du recht“, antwortet Papa, „aber man geht davon aus, dass es einen Auftraggeber gibt, der selbst nicht beteiligt war. Jemand, oder auch mehrere, die die Leute in den Flugzeugen dazu angestiftet haben, diese Anschläge zu verüben, verstehst du? Diese Auftraggeber sind natürlich noch am Leben, und vielleicht planen sie sogar noch mehr solche Verbrechen. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass der amerikanische Präsident gegen sie militärisch vorgehen wird, sobald man herausfindet, wer es ist.“
   Ich verstehe nicht alles, was Papa mir erklärt, er benutzt so viele Erwachsenenwörter. Bedeutet zum Beispiel „militärisch vorgehen“ dasselbe wie Krieg? Er hat mir immer noch nicht gesagt, ob es nun wirklich keinen Krieg geben wird. Außerdem verstehe ich nicht, wie man jemanden dazu anstiften kann, etwas zu tun, bei dem derjenige selbst am Schluss stirbt. Ich schüttele den Kopf. Es ist alles so schwierig, aber mir fallen jetzt keine Fragen mehr ein.
   „Papa meint“, versucht Mama zu verdeutlichen, „dass ein Krieg nicht einfach so ausbrechen wird. Die Amerikaner werden sicher nichts überstürzen.“ Irgendwie klingt das so, als sage sie das nur, um mich zu beruhigen – ohne es selbst zu glauben. „Und wenn sie wirklich einen Krieg führen, dann nicht gegen uns“, fügt sie noch hinzu.
   „Aber gegen andere“, flüstere ich. „Menschen und Kinder. Dann sterben noch viel mehr Leute. Vielleicht tausend mal tausend.“

Als ich im Bett liege, kommt die Angst wieder. Es ist eine Art von Angst, die ich bis jetzt nicht gekannt habe. Keine kleine Angst vor bestimmten Dingen, vor Spinnen zum Beispiel oder vor der Dunkelheit oder vor dem Jungen aus der dritten Klasse, der mich auf dem Schulweg immer ärgert. Sondern eine große, sprachlose Angst vor etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist, das aber trotzdem da ist – und auch Mama und Papa Angst macht. Das ist das, was ich am schlimmsten finde.
   Mama hat mir meine Lieblingsgeschichte vorgelesen, damit ich mich beruhige. Aber sobald sie fertig gelesen hatte, musste ich wieder an das Flugzeug denken und das Hochhaus. Ich fragte Mama, ob in dem Hochhaus Wohnungen gewesen seien und was die Leute, die darin gewohnt hätten, jetzt machen würden. Sie sagte nur, daran solle ich jetzt nicht denken, sondern ruhig schlafen. Aber dabei sah sie mich mit demselben Ausdruck an, den sie am Nachmittag auch gehabt hatte, als ich die Tränen in ihren Augen gesehen hatte.
   Ich liege im Dunkeln und stelle mir wieder vor, wie das Flugzeug auf das Gebäude zurast. Aber diesmal bin ich nicht im Haus, sondern im Flugzeug. Ganz vorne, da, wo der Pilot sitzt. Auf dem Sessel des Piloten, vor diesen ganzen Knöpfchen und Lämpchen und Hebeln und Zeigern, sitzt der Terrorist, der will, dass das ganze Flugzeug mit allen Menschen darin in das Hochhaus hineinkracht. Er sieht mich nicht, weil ich hinter ihm stehe. Das Hochhaus kommt näher und näher. Ich muss unbedingt etwas tun. Immer noch unbemerkt, trete ich ganz nah an den Terroristen heran und kreische ihm so laut ich kann ins Ohr. Er erschrickt so sehr, dass ich ihn einfach vom Sitz schubsen kann, und er knallt mit dem Kopf irgendwo gegen und wird ohnmächtig. Ganz schnell setze ich mich auf den Pilotensitz. Man sieht jetzt schon die Leute in dem Hochhaus, die erschrocken aus den Fenstern schauen. In allerletzter Sekunde steuere ich das Flugzeug nach rechts. Der Zusammenstoß ist abgewendet.
   Ich muss noch mal aufstehen. Mama und Papa sitzen im Wohnzimmer, der Fernseher läuft wieder. Aber ich will jetzt gar nicht auf den Bildschirm gucken.
   „Mama, Papa“, sage ich. „Ich muss unbedingt lernen, wie man ein Flugzeug fliegt.“
 
 

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