Innenleben

 

In mir wohnt ein kleiner hässlicher Rationalist. Früher, in meiner Jugend, war er groß und schön. Aber er benahm sich zu selbstherrlich, zu herrisch. Deshalb habe ich eines Tages gegen ihn aufbegehrt. Der Putsch war erfolgreich, und so sitzt er seither klein und hässlich in seiner Ecke und redet fast nur noch, wenn er gefragt wird.

Ich war achtzehn Jahre und fünf Monate alt, als ich den ursprünglich großen und schönen Rationalisten in mir in seine Schranken wies. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nie in den Sinn gekommen, dass dies überhaupt möglich sein könnte. Er war so schön und so stark, dass ich ihn einfach bewundern musste. Was er sagte, war stets richtig, und wenn ich etwas anders machte als er es mir nahe legte (was zugegebenermaßen recht häufig geschah), dann war sein Zorn mir gewiss. Er hatte also sehr viel Macht über mich. Aber ich stellte die Rechtmäßigkeit dieser Macht nie in Frage.

Bis zu jenem Tag im Frühling, als der Flieder so betörend duftete und ich Julius küsste.

Julius war der Verlobte meiner besten Freundin. Und natürlich versuchte mich der damals große und schöne Rationalist in mir mit all seiner Macht davon abzuhalten, mich Julius auch nur zu nähern. Aber zum ersten Mal war irgend etwas anderes in mir stärker als er. Es war ein harter Kampf, der vielleicht zwei Wochen dauerte; aber schließlich war der große, schöne Rationalist besiegt. Unterdessen hatte Julius die Verlobung mit meiner besten Freundin gelöst, und er und ich wurden ein Paar und waren viele Jahre sehr glücklich miteinander.

Ab und zu meldete sich der ehemals große und schöne Rationalist noch zu Wort. Wenn er sich besonders stark fühlte, machte er mir wegen seiner Entmachtung bittere Vorwürfe. Er setzte mir auseinander, ich hätte das Glück meiner besten Freundin zerstört, und eine Partnerschaft, die sich auf derartiges Unglück gründet, könne niemals von Dauer sein. Mitunter sprach er dann so laut, dass ich gezwungen war ihm zuzuhören und mich auf den Disput einzulassen. Aber er war klein und hässlich geworden und zudem nicht einmal mehr überzeugend, denn meine beste Freundin hatte längst einen anderen Mann geheiratet und führte eine zufriedene Ehe, und was mich und Julius anging, so waren wir immerhin schon so lange zusammen, dass die Unkerei über ein baldiges Ende jeder Grundlage entbehrte.

Nun ja, eines schönen Tages hat Julius mich dann verlassen. Und ich wünschte mir sehr, der früher so große und allmächtige Rationalist möge aus seiner Ecke hervorkommen und mir sagen, was ich jetzt tun solle. Aber er war eben nur noch klein, hässlich und zu schwach, um mir helfen zu können – und, wer weiß, vielleicht wollte er es auch nicht, aus Rache dafür, dass er degradiert worden war. Mir blieb also nichts anderes, als jener Macht zu folgen, die seinerzeit den großen und schönen Rationalisten besiegt und ihn zu dem gemacht hatte, was er nun war.

Ich musste aber bald feststellen, dass diese Macht äußerst anspruchsvoll war. Viel, viel anspruchsvoller als es der Rationalist je hatte sein können, sogar in seinen einflussreichsten Tagen. Sie wollte alles; alles, was Julius vorher für mich gewesen war, der nun nicht mehr da war. Und wenn sie es nicht bekam, dann fügte sie mir Schmerz zu. Der Rationalist, das muss man gerechterweise einräumen, war wenigstens nur zornig gewesen, wenn ich seine Erwartungen nicht erfüllt hatte.

Um der Grausamkeit jener Macht aus dem Weg zu gehen, versuchte ich also ihre Forderungen zu befriedigen.

Ich las Romane. Doch die Macht lauerte nur darauf, wieder zuzustechen, sobald ich die letzte Seite beendet hatte.

Ich schrieb Gedichte. Aber die Macht erachtete keines davon ihrer eigenen Großartigkeit für würdig.

Ich traf mich mit Männern. Doch die Macht befand keinen von ihnen für fähig, ihren Ansprüchen dauerhaft gerecht zu werden.

Ich lauschte Konzertaufführungen. Das stellte die Macht meist eine Zeitlang ruhig, aber allzu rasch war sie wieder zur Stelle und verlangte nach mehr.

Ich tat, was ich konnte, um der Macht entgegenzukommen. Aber sie war durch nichts zu besänftigen, im Gegenteil schienen all meine Bemühungen sie nur noch grausamer zu machen. Mehr noch, mein ganzes Leben begann aus den Fugen zu gehen. Meine Arbeit, meine Familie, meine Freunde – ich benutzte sie nur noch, gleichsam als Schutzschild gegen das Wüten der Macht, obschon ich doch weiß, dass ich niemals einen echten Erfolg gegen sie erringen werde.

Und jetzt ist es wieder einmal Frühling. Der Flieder duftet, dass einem schlecht werden kann. Vielleicht sollte ich den kleinen hässlichen Rationalisten aus seinem Versteck herauslocken, ihn ein wenig waschen und kämmen und ihm ansehnliche Kleider anziehen. Wenn man es recht bedenkt, hätte er es verdient.

 


 

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