Die Brücke

„Geh jetzt. Geh und vergiss mich,“ hatte er gesagt, „du wirst wieder glücklich werden, das weiß ich,“ und sie war gegangen, aber vergessen hatte sie nichts, und sie ging immer weiter und weiter, vielleicht kam es ja irgendwann von selbst, das Vergessen. Sie hatte keine Kraft mehr, sich darum zu bemühen. Sie wollte ja, sie hatte immer getan, was er sagte, es war immer das Beste gewesen – drei Jahre lang, und jetzt sagte er, sie solle diese drei Jahre vergessen. Vielleicht war es auch diesmal das Beste, was er sagte, drei Jahre ihres Lebens vergessen, einfach vergessen... Sie ging und ging, und die Erinnerungen zogen in ihrem Kopf vorüber, keine Kraft, sich gegen sie zu wehren, und jede einzelne bohrte ihr das Bewusstsein, dass es für immer vorbei war, tiefer in die Seele.
   „Du wirst wieder glücklich werden.“ Sie weinte nicht und sie würde auch nicht weinen, nicht so, wie sie es getan hatte, wenn er angerufen und gesagt hatte, dass sie sich heute nicht sehen könnten, allein in ihrem Zimmer mit dem Gesicht im Kissen und die Stunden zählend, die sie ohne ihn würde auskommen müssen – oder wenn sie sich gestritten und wieder versöhnt hatten, unzählige Male in seinen Armen, voller Glück und Erleichterung. Tränen, die Gefühle verursacht hatten, Schmerz oder Freude, Einsamkeit oder Seligkeit, aber jetzt fühlte sie nichts. Sie ging und ging und fragte sich, was sie überhaupt weiter trieb, aber da war nichts außer einer unermesslichen Leere, dort, wo doch eigentlich das Vergessen hätte sein sollen – und gerade deshalb musste sie weitergehen, immer weiter und weiter, denn wenn sie stehenblieb, würde sie in der Leere verschwinden... „Du wirst wieder glücklich werden...“ Sie durfte sich nicht hineinfallen lassen in diese Leere, in der es weder Glück gab noch Vergessen, sie musste weitergehen, immer weiter, bis – –
   bis in alle Ewigkeit?
   Es hatte immer ein nächstes Mal gegeben, wenn sie davongelaufen war, bis jetzt. Davongelaufen vor ihm, vor sich selbst und vor ihren Gefühlen, mit denen sie ihn nicht hatte einengen wollen, die sie aber auch nicht imstande gewesen war zu kontrollieren. Er war dagewesen, er hatte gewartet, und sie hatte immer gewusst, irgendwann würde alles wieder gut sein, sie gehörte trotz allem zu ihm. Jetzt tat sie es nicht mehr. Jetzt konnte er nicht mehr warten, ließ sie davonlaufen ohne ein nächstes Mal, weil er es nicht mehr ertragen konnte, der Sinn ihres Lebens zu sein, ihr Alles, ihre Welt, die Grundlage ihres Daseins, ihre Existenz – weil er frei sein wollte. Sie hatte von seinem Warten gelebt, drei Jahre lang, von einem nächsten Mal zum anderen. Und jetzt sollte sie alles vergessen – aber das war doch ganz unlogisch, wenn man seine Existenz verlor, existierte man nicht mehr, und dann konnte man die Existenz auch nicht vergessen... Sie bestand nur noch in der Vergangenheit – nur noch Erinnerung –
   „Geh und vergiss mich.“ Sie wusste jetzt, dass es nicht möglich war, weil er ein Teil ihrer selbst war, ohne den sie gar nicht existierte, von dem sie so abhängig war wie vom Schlagen ihres Herzens. „Ich kann nicht leben ohne dich...“ Sie hatte es ihm viele Male gesagt, in Momenten des Glücks, aber auch, wenn sie deprimiert gewesen war über ihre Abhängigkeit von ihm – doch da hatte es kein „ohne dich“ gegeben, er war dagewesen, ein Teil von ihr und ihrem Leben und als solcher selbstverständlich. Er hatte es gewusst. Er wusste auch jetzt, was er ihr antat, indem er sich ihr entriss und nur Leere zurückließ, indem er die Wirklichkeit mit sich nahm, sodass ihr nur die Erinnerung blieb... Wie konnte er glauben, sie würde vergessen können, wenn er ihr nichts anderes übrig ließ als die Erinnerung an das, was sie vergessen sollte? Wie konnte er glauben, sie würde wieder glücklich werden können mit ihrem Leben, wenn er ihr dieses Leben wegnahm? Ihr Leben, das er selbst war...
   Sie wusste nicht, woher sie gegangen war auf ihrer Flucht vor der Leere, der sie doch nicht entrinnen konnte, noch wie lange sie unterwegs gewesen war – Stunden? Tage? Jedenfalls begann irgendwann die Umgebung doch wieder bis in ihr Bewusstsein vorzudringen. Unter ihr rauschte Wasser – die trägen, schmutzigen Fluten des Stroms. Sie befand sich auf einer der Stahlbrücken, die ihn überspannten. Es war Nacht. Kein Mensch, kein Auto war in der Nähe.
   Sie blieb stehen, trat ans Geländer und schaute hinunter in das schwarze, gurgelnde Wasser.
   Dort unten lockte das Vergessen. Dort schien ihr Ziel zu liegen, ihre Bestimmung – das Glück einer Seele, die keine Gefühle mehr kannte, der Sinn eines Daseins, das längst verloren war... „Geh und vergiss mich.“ Wenn es aber nicht ging, wenn sie nicht einmal mehr bestand ohne ihn – wo sonst sollte sie hin, was sonst sollte sie tun als sich einfach fallen lassen in diese Tiefe, in das Nichts, das das Ende endgültig machen würde? Sie kletterte auf das Geländer. Bald, in ein paar Augenblicken würde es vorbei sein. Sich ins Nichts fallen zu lassen – es war die logische Konsequenz aus dem, was vorgefallen war, aus ihrer scheinbar ziellosen Wanderung, aus der Tatsache, dass sie selber nur noch Vergangenheit war, die doch vergessen werden sollte... Ihre Füße baumelten über dem Abgrund, sie brauchte sich nur noch ganz leicht abzustoßen. Dann würde alles Sinnlose endlich verschwunden sein: die Erinnerung an ihr Leben mit ihm – und ihr Leben ohne ihn...
   Plötzlich lag eine Hand auf ihrer Schulter. Sie hatte niemanden kommen hören, war auf nichts vorbereitet und glaubte sich im ersten Moment hinuntergestoßen, und eine wahnsinnige Angst überfiel sie. Halb besinnungslos wandte sie den Kopf um – und sah in das von einem stoppeligen Bart eingerahmte Gesicht eines Mannes. Im nächsten Moment nahm sie den durchdringenden Geruch nach Alkohol wahr, der von ihm ausging. Unfähig, etwas zu sagen, schaute sie nur in dieses Gesicht, während Ekel in ihr hochstieg.
   „Schschullijung,“ lallte der Mann nach Sekunden des Anstarrens, offensichtlich irritiert über ihre Sprachlosigkeit. „Isch wollte nich stören. Schönen – schönen Ahmt noch.“ Und damit verschwand die Hand von ihrer Schulter, und der Betrunkene torkelte langsam davon, den stechenden Alkoholgeruch zurücklassend.
   „Hau bloß ab, du Schwein!“ schrie sie ihm nach, viel zu spät und offensichtlich auch ungehört.
   Aber der Schrei löste etwas in ihr, schien sie freizumachen von etwas, das sie all die Stunden zuvor zugeschnürt, eingeschlossen, zusammengepresst hatte. Er brach den Weg frei für die Tränen, die ihr plötzlich aus den Augen schossen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Das Weinen schüttelte sie so, dass sie um ein Haar von dem Brückengeländer gefallen wäre, auf dem sie immer noch saß, die Füße über dem Abgrund, und sie kletterte vorsichtig wieder auf den festen Boden zurück, wo sie sich hinsetzen konnte, um den Tränen freien Lauf zu lassen. Sie hatte keine Ahnung, warum sie weinte. Sie wusste nur, dass es nicht einmal ein schlechtes Gefühl war.
   Und langsam kehrten Gefühle zurück, Gedanken, Erkenntnisse. Das Bewusstsein, dass sie Angst gehabt hatte, als sie die Hand auf ihrer Schulter gespürt und instinktiv geglaubt hatte, jemand wolle sie hinterrücks vom Geländer stoßen – Angst um ihr Leben, dasselbe Leben, das sie selbst hatte beenden wollen. Die erschreckende Klarheit, dass sie vielleicht jetzt dort unten im Wasser triebe, wenn der Betrunkene nicht zufällig vorbeigekommen wäre.
   Und schließlich, langsam und noch nicht richtig fassbar, das Wissen, dass ihr Leben doch einen Wert hatte, ganz für sich, ohne Abhängigkeit von irgend jemand anderem.
   Die Tränen versiegten, und sie hatte das Gefühl, als könne sie nach langer Zeit zum ersten Mal wieder klar sehen. Sie stand auf und schaute über das Geländer, und ein Schauder überlief sie.
   „Wie konnte ich so blöd sein,“ sagte sie vor sich hin.
   Und als sie langsam fortging, dachte sie nicht mehr an ihren Freund, der nach drei Jahren Schluss gemacht hatte. Sie dachte, dass sie dem Betrunkenen verdammt dankbar war.
 
 

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